Dass Theater im umbauten Raum stattfindet, ist eine Erfindung des 18. und 19. Jahrhunderts. Fürsten, Könige und später das neue reiche Bürgertum erbauten diese Tempel der Musen Thalia (Komödie) und Melpomene (Tragödie). Die Griechen und Römer ehrten diese Musen in ihren geschickt gebauten, akustisch vorzüglichen, offenen Amphitheatern. Dazwischen agierten die Künstlerinnen und Künstler als das fahrende Volk auf offener Straße. Die berühmtesten Truppen waren die der Commedia dell’arte und die der Hanswurstiaden. Dass Straßentheater einen guten Ruf für die Städte hat, ist im Grunde genommen eine Entwicklung der letzten vierzig Jahre. Man spricht heute auch weniger vom Straßentheater als vielmehr vom Theater im öffentlichen Raum. Einige europaweit ausstrahlende Festivals haben einen großen Anteil zu dem guten Ruf beigetragen.

THEATERFESTIVALS VITALISIEREN STÄDTE
EDINBURGH FRINGE
Das älteste Festival ist das »Edinburgh Fringe«, das 1947 als Alternative zum klassischen »Edinburgh Festival« gegründet wurde. Man suchte alternative Auftrittsorte für acht Compagnien, die nicht offiziell zu diesem klassischen Festival eingeladen waren. Von Anfang an nutzten diese Gruppen also unkonventionelle Orte, was die Grundlage für die spätere Entwicklung von Straßentheater und anderen nicht-traditionellen Auftrittsformen legte. Öffentlicher Hauptort ist unter anderem jedes Jahr die High Street. Alle ist willkommen. Das Selbstverständnis heißt »stolz darauf zu sein, jeden in unser Programm aufzunehmen, der eine Geschichte zu erzählen hat und einen Veranstaltungsort findet, der bereit ist, ihn aufzunehmen.« Die Leitung über die quicklebendigen alljährlichen drei Wochen im August hat Tony Lankester. Die Comedy- und James-Bond-Autorin Phoebe Waller- Bridge, als Schauspielerin auch in »Indiana Jones« und »Star Wars«-Sequels zu sehen, ist Ehrenpräsidentin.

Es gibt eine Messe, die am ehesten mit der Internationalen Kulturbörse Freiburg vergleichbar ist. 2025 wurden insgesamt 3.893 Vorstellungen an 301 Veranstaltungsorten aus 62 Ländern gegeben. Musik, Zauberei, Zirkus gibt es an Straßenkunstplätzen rund um die Veranstaltungsorte. Über 500 Straßenkünstler:innen waren 2025 zu sehen. Seinen Höhepunkt bietet das Festival der Street Events immer zum Abschluss jedes Tages um 17.15 Uhr am Mound Precinct. Das Festival ist weltoffen und politisch. Die Themen, mit denen sich die Künstler:innen im Rahmen des Programms auseinandersetzten, reichen von rebellischen Frauen bis zum Paranormalen, von der Apokalypse bis zur Nostalgie, von queerer Freude bis zum Leben mit Krankheit, von Rave- und Clubkultur bis zu Wissenschaft und Technologie. Man legt Wert darauf, auch Künstler:innen aus der Arbeiterklasse und auch Menschen mit neurologischen Handicaps eine Bühne zu bieten. 2026 ist das Fringe vom 7. bis 31. August terminiert.
GREENWICH+DOCKLANDS INTERNATIONAL FESTIVAL (GDIF)
Ein weiterer europäischer Hotspot – 2025 feierte er das dreißigste Jubiläum – ist das »Greenwich+Docklands International Festival« –, das seit Anbeginn die spektakulärsten Acts im gesamten südöstlichen Londoner Quartier präsentiert, das ihm seinen Namen gab. Geleitet wird das Festival seitdem von Bradley Hemmings, der 2016 mit einem MBE geadelt wurde und 2012 einer der Künstlerischen Leiter der Eröffnung der Paralympischen Spiele in London war. In der Vergangenheit bot das Festival zum Beispiel den australischen »Strange Fruit« vor den alten Lagerhäusern der Docklands eine gigantische Kulisse für ihren beschwingten Pole-Act.

Mit »Above and Beyond« wurde das Festival 2025 von den französischen Parcours-Künstlern Lézards Bleus eröffnet, und zwar mit einer atemberaubenden Performance, bei der sie mit virtuosen Moves über die Dächer der Wahrzeichen von Woolwich sprangen. Ein anderer Höhepunkt zwischen dem 22. August und dem 6. September war der abschließende schwimmende Act »The Weight of Water« der niederländischen Compagnie Panama Pictures auf dem Birchmere Lake in Thamesmead. Es war eine eindrucksvolle künstlerische Antwort auf die Klimakrise, die Tanz, Zirkus und Live-Musik auf dem Wasser miteinander spektakulär verband. Das 31. Festival 2026 ist noch nicht terminiert. Das Datum wird erst Anfang 2026 bekannt gegeben.
CHALON DANS LA RUE
Wechseln wir auf die andere Seite des Ärmelkanals, ins traumhafte Burgund. »Chalon dans la rue« ist ein Festival für Straßenkunst und öffentlichen Raum, das 1987 in Chalon-sur-Saône ins Leben gerufen wurde. Seit 1991 hat sich das Team im ehemaligen Schlachthof der Stadt niedergelassen und dort ganzjährige Aktivitäten entwickelt. Im Jahr 2005 wurde das Team vom Kulturministerium als Centre National des Arts de la Rue (Nationales Zentrum für Straßenkunst) und 2017 als Centre National d’Art de la Rue et de l’Espace Public (CNAREP, Nationales Zentrum für Straßenkunst und öffentlichen Raum) ausgezeichnet. Die Aktivitäten des CNAREP gliedern sich in zwei miteinander verbundene Bereiche: ganzjährige Aktivitäten mit Auftragsproduktionen und das mehrtägige Festival »Chalon dans la rue« im Juli. Das Zentrum ist ein Ort der Kreation und der Proben. Jedes Jahr beherbergt es 15 bis 20 Compagnien. Geleitet werden Zentrum und Festival von Nathalie Cixous. Theater im öffentlichen Raum spielt in Frankreich seit der Ägide des ehemaligen Kultusministers Jack Lang eine große Rolle. Dementsprechend breit ist das Spektrum.

Beim 38. Festival, das 150 Truppen und Künstlerinnen und Künstler sowie 1.000 Fachleute beherbergte, ging man wie beim Greenwich Festival in diesem Jahr auch aufs Wasser. Oder richtiger: In Chalon ging es unter Wasser. Die Cie Ea Eo tauchten in einem Schwimmbecken ab. In der Performance »In meinem Schwimmbad/Dans ma piscine« taucht und bewegt sich der Jongleur Eric Longequel in einem sechseckigen Aquarium, das zwei Meter hoch und zwei Meter breit ist. Er manipuliert schwebende Objekte und haucht ihnen durch seine Manipulationen unter Wasser Leben ein. Es ist ein ästhetischer Kampf gegen die Schwerkraft und den Sauerstoffmangel. Das 39. Festival »Chalon dans la rue« findet voraussichtlich vom 23. bis 26. Juli 2026 in Chalonsur-Saône statt.

WELTTHEATER DER STRASSE
Auch in Deutschland finden Theaterfestivals von (inter-)nationaler Bedeutung statt. Das dreitägige 32. »Welttheater der Straße« hieß zur Eröffnung, wen wundert es noch, französische Künstler:innen willkommen. Mit der Luftartistik-Theaterproduktion »Vent d’Ouest/Westwind« der französischen Compagnie Les P’tits Bras wurde das Festival im westfälischen Schwerte, das aber auch lokale Akteur:innen einbindet, am 29. August 2025 eröffnet. Für den Leiter Holger Ehrich, selber als Künstler mit dem Duo Diagonal unterwegs, ist das Theater im öffentlichen Raum die demokratischste Kulturform. Die bunte Mischung an Shows holt alle Zielgruppen ab und nimmt sie mit. Die Menschen lassen sich auf Neues ein, entdecken auch abseits der Metropolen Kunstformen, die sie sonst vielleicht nie kennengelernt hätten. Niederschwelliger kann auch dort Kultur kaum sein. Sie passiert eben direkt dort, wo die Menschen sind: draußen, mitten in Schwerte. 2026 findet das »Welttheater der Straße« wieder am letzten Augustwochenende statt.

Theater im öffentlichen Raum strahlt weit über die Stadtgrenzen hinaus. 60 Prozent der Gäste z. B. in Schwerte reisen von außerhalb an und national zählt das »Welttheater« zu den renommiertesten Veranstaltungen seiner Art. Dabei ist Deutschland in Sachen Theater im öffentlichen Raum immer noch ein kulturelles Entwicklungsland. In vielen Ländern Europas wird das Genre als eigenständige Kunstform auf Augenhöhe mit Schauspiel, Oper und Ballett gesehen, hierzulande gilt Straßenkunst allzu oft noch als dekorative Ergänzung von Events und Stadtfesten. Da sind uns Schottland, England und Frankreich noch um einiges voraus. Dabei vitalisiert Theater im öffentlichen Raum unbestritten die deutschen Innenstädte, die das oftmals auch bitter nötig haben.
Die komplette showcases-Ausgabe findest du hier: https://ebooks.memo-media.de/fokus-stadtfeste-i-showcases-2025-04/70781442
k.meisner@memo-media.de
Redakteur bei showcases
Weitere Artikel

DAS ABC DER STADTFESTE: The Swingin‘ Sweethearts feiern mit
A // Ankunft auf einem Platz, wo gespielt werden soll, ist immer wieder eine neue Herausforderung. B // Bühne vorhanden oder nicht! Manchmal gibt es einen Riesenaufbau mit allem, was man sich nur wünschen kann. Ein anderes Mal steht man auf den nackten Pflastersteinen (neben einem Misthaufen). Alles hat seinen Charme. C // Charakter findet [...]

Die Kraft der Kunst!
Der südafrikanische Multikünstler William Kentridge ist dort während des Apartheit-Regimes aufgewachsen. Seine Eltern waren die Anwälte Nelson Mandelas. Er selbst ist inzwischen ein Weltstar. Er schuf Puppentheater, Operninszenierungen, Textilarbeiten, Grafiken und Filme. Kentridge setzt sich immer wieder mit Rassismus und Ungerechtigkeit auseinander. Heuer wurde er 70. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden widmen ihm aus diesem Anlass [...]
Stadt, Land, Fest! – Ideen, die Plätze zum Leben erwecken
Wie wird aus einer Innenstadt ein Erlebnisraum? Unser Special bündelt schnelle Praxis-Ideen für Stadt- und Kulturfeste: von smarten Netzwerken und Marketing-Tools für Kommunen über sichere Funkkommunikation auf Events bis hin zu Weiterbildung rund um Zugangsschutz. Dazu: programmstarke Hingucker wie „Brass & Beats“ als mobile Marching-Band mit Festival-Feeling – und der ultimative Selfie-Magnet im Retro-Bus, der [...]